DER ANDERE BLICK

Freiheit beginnt im Kopf: Wir müssen die Pandemie hinter uns lassen

Der Tag, an dem Corona nur eine normale Infektion der Atemwege ist, rückt näher. Noch dreht sich alles um die Pandemie. Doch am Ende ist Covid eine Krankheit unter vielen. Es gilt, die Risiken vernünftig abzuwägen.

Eric Gujer, NZZ

21.01.2022, 05.30 Uhr

In der Pandemie schwingen alle Seiten die Moralkeule.

Corona am Morgen, Corona am Mittag und am Abend. Das Thema kann niemand mehr hören, und doch kommt die Politik nicht so einfach davon los. Die immergleichen Stichworte werden wiederholt: der Kollaps des Gesundheitswesens, die Überlastung der kritischen Infrastruktur, auch die Impfpflicht darf nicht fehlen. Es fühlt sich an wie eine einzige, nervtötende Endlosschleife.

Zugleich hat sich die Gesellschaft mit den Einschränkungen arrangiert. Der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier. Irgendwann wirkt das Unvorstellbare normal, selbst die Pandemie wird zur Routine. Es braucht daher eine bewusste Anstrengung, bis sich wieder ein Denken durchsetzt, das nicht vom Ausnahmezustand bestimmt wird. Freiheit beginnt im Kopf.

Die Durchseuchung ist kein Schreckgespenst mehr

Die Anzeichen mehren sich, dass sich die Situation entspannt. Ernstzunehmende Stimmen wie der Virologe Klaus Stöhr fordern einen «Exit-Plan». Der frühere Leiter des Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganisation sagt zudem: «Für Omikron kommt die Impfpflicht in diesem Winter zu spät», während sie im nächsten Winter nicht mehr notwendig sei. Die WHO hat Beratungen darüber begonnen, wann sie die ausserordentliche Lage aufhebt.

Der Virologe Christian Drosten propagiert inzwischen eine natürliche Durchseuchung. «Wir werden nicht auf Dauer über alle paar Monate die Bevölkerung nachimpfen können. Das geht nicht. Irgendwann muss das Virus auch in der Bevölkerung Infektionen setzen, und das Virus selbst muss die Immunität der Menschen immer wieder updaten.»

Der grosse Ausstieg naht. Kein Experte kann zwar sagen, wann der Zenit der Pandemie überschritten ist. Sofern nicht neue gefährliche Varianten auftauchen, dürfte Corona indes zu einer gewöhnlichen Atemwegserkrankung werden. Ein Sonderregime mit Zwangsmassnahmen lässt sich dann nicht mehr rechtfertigen. Die Politik reagiert auf den Paradigmenwechsel unterschiedlich. Der Schweizer Bundesrat Alain Berset vergleicht Corona bereits mit der Grippe. Auch der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez regt an, die EU solle Covid wie eine saisonale Influenza behandeln.

Der Schweizer Bundespräsident und frühere Tessiner Kantonsarzt Ignazio Cassis gibt für die Spitäler Entwarnung. Im «Sonntags-Blick» erklärte er, eine Belegung der Intensivstationen von 80 Prozent sei nicht aussergewöhnlich. «Die Schwierigkeit der Triage erleben Mediziner auf Intensivstationen jeden Tag.» Die Schweiz könne die Kapazitäten steigern, er halte das aber nicht für nötig.

Nur die deutsche Regierung mag ihr Lieblingsspielzeug nicht hergeben. Gesundheitsminister Karl Lauterbach insistiert, «die Krankenhäuser werden an ihre Belastungsgrenze kommen». Unverdrossen treibt er die allgemeine Impfpflicht voran, die drei Impfungen umfassen soll.

Die Aussage allerdings sollte man nicht zum Nennwert nehmen, genauso wie manch andere Prognose in der Pandemie. In Israel haben bereits 500 000 Personen eine vierte Impfung erhalten, weil sich drei Termine in bestimmten Bevölkerungsgruppen als unzureichend herausstellten. Das ficht Lauterbach ebenso wenig an wie die wachsende Skepsis der Fachwelt gegenüber der Impfpflicht.

Selbst wenn Corona schon lange vorbei ist, werden die Folgen noch lange zu spüren sein

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich Anfang Dezember auf den Impfzwang festgelegt, weshalb die Regierung nun glaubt, sich keinen Rückzieher erlauben zu können. Freiheit beginnt eben im Kopf — oder auch nicht. Man kann es Vorsicht nennen, was die Koalition antreibt. Einen von vielen Menschen als weitreichend empfundenen Eingriff anzuordnen, obwohl weder die medizinische Notwendigkeit noch die praktische Durchführbarkeit geklärt sind, deutet jedoch auf beträchtliche Sturheit hin oder auf die Unsicherheit eines im Amt noch neuen Kanzlers.

Nicht einmal ein nationales Impfregister — in Österreich die Grundlage für die Umsetzung der Impfpflicht — existiert aus datenschutzrechtlichen Gründen. Dass es ein totales Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gibt, jedoch nur ein eingeschränktes auf medizinische Selbstbestimmung, ist absurd. Man sollte meinen, wenn der Notstand so umfassend ist, müssten alle Grundrechte gleichermassen eingeschränkt werden. Es sind solche Inkonsistenzen, welche die Pandemiepolitik unnötig in Verruf gebracht haben.

Diese Verrenkungen zeigen, wie schwer es ist, die Seuche hinter sich zu lassen. Da nur der Booster umfassend schützt, müssten selbst zweifach Geimpfte aus öffentlichen Räumen verbannt werden. Irgendwann wird aus Konsequenz eben Kafka. Das pandemische Denken neigt zum Unbedingten und dazu, Dinge um ihrer selbst willen zu tun.

Wie ein Grauschleier hat sich diese Form des Denkens über alle Politikbereiche gelegt. Mehr noch: Die Folgen werden auch dann noch spürbar sein, wenn Corona nurmehr eine ferne Erinnerung ist. So hat die EU wegen Covid das Prinzip, dass Brüssel keine Schulden macht und keine Steuern erhebt, auf dem Altar der Nothilfe geopfert. Unter dem Eindruck der Bilder aus Bergamo war dies verständlich, wenn nicht gar notwendig. Damit rücken zugleich die volle Schuldenunion und der europäische Superstaat näher. Rückgängig machen lässt sich das kaum.

Ganze Branchen haben sich an Zahlungen gewöhnt, die so grosszügig sind, dass die Zahl der Konkurse geringer ausfällt als üblich. In der nächsten Wirtschaftskrise wird man Gleiches erwarten. Die Seuchenbekämpfung gehört unzweifelhaft zum Pflichtenheft des Gesundheitswesens. Dennoch macht sich eine Anspruchshaltung breit, welche die Erfüllung einer Aufgabe zum heldenhaften Akt verklärt. In der Schweiz hat sich diese Sicht durchgesetzt — besiegelt mit einer Volksabstimmung. Dabei lässt sich das Land die Gesundheitsversorgung jährlich 82 Milliarden Franken kosten, weshalb das Personal im internationalen Vergleich schon jetzt gute Arbeitsbedingungen vorfindet.

Die Pandemie kann nicht länger der archimedische Punkt sein, von dem aus wir alles andere betrachten. Sonst gehen überall die Proportionen verloren. Das Verlangen nach Normalität ist nicht frivol. Die Skepsis gegenüber überbordenden staatlichen Interventionen und Ausgaben ist keine Verantwortungslosigkeit, die Leben aufs Spiel setzt.

Es ist perfide zu behaupten, der Tod der Schwächsten würde billigend in Kauf genommen

Viele Menschen ignorieren die sinnvollen Distanzregeln und werden es auch in Zukunft tun. Aber selbst die Diskrepanz zwischen staatlicher Vorsicht und individueller Sorglosigkeit bestätigt letztlich nur, dass die Möglichkeit, die Freiheit zu missbrauchen, zu deren Voraussetzungen gehört. Es wäre der gefährlichste Langzeitschaden der Seuche, wenn das Konzept der Freiheit in Misskredit gerät. Es existiert auch mentales Long Covid.

Selbst liberale Geister erklären mit jeder neuen Corona-Welle, Not kenne kein Gebot. In einer solch ausserordentlichen Lage müsse eine Regierung gleichsam ohne Rücksicht auf Verluste handeln, auch auf die Gefahr gravierender Irrtümer hin.

Dabei befanden sich weder die staatlichen Organe selbst noch die vielen Subsysteme der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft je in einer Situation, in der es zum Kollaps kam. Die Gesellschaft funktioniert erstaunlich gut: die Verwaltung, das Gesundheitswesen, die Lebensmittelversorgung. Nie trat der Ausnahmezustand ein. Das Gerede von der Not, die kein Gebot kennt, war nie mehr als ebendas: Gerede.

In der Pandemie schwingen alle Seiten die Moralkeule. Besonders perfid ist der Vorwurf, eine in der Wahl ihrer Mittel moderate Politik betreibe Sozialdarwinismus. Wer vor «Zero Covid» und anderen Übertreibungen zurückschreckt, nimmt nicht den Tod der Schwächsten billigend in Kauf. Er akzeptiert nur, dass sich manche Lebensrisiken nicht mit vernünftigem Aufwand verhindern lassen.

Auch der Tod durch Rasen und Rauchen ist vermeidbar. Dennoch sind Zigaretten und Autos frei verkäuflich, so wie niemand zum Sport gezwungen wird. Daraus spricht nicht Verantwortungslosigkeit gegenüber Autofahrern, Nikotinsüchtigen, Übergewichtigen und Bewegungsmuffeln, sondern die Erkenntnis, dass hundertprozentiger Schutz ins Totalitäre mündet. Mit anderen Worten: Risiken werden rational gegeneinander abgewogen.

Das pandemische Denken hingegen erklärt das Coronavirus zum einzigartigen Sonderfall und setzt Covid nicht in Relation zu anderen Krankheiten. Dieses Denken muss die Gesellschaft endlich hinter sich lassen, damit der grosse Ausstieg gelingt. Wir müssen lernen, die Pandemie zu vergessen.


Date
January 21, 2022