Die Slim-Fit-Moral: Österreich ist das Land, in dem der Begriff der «Unschuldsvermutung» eine triumphale Karriere hinlegt An der Donau wäscht eine Hand die andere. Und wenn das an die Öffentlichkeit kommt — dann werden alle ihre Hände wieder nur in Unschuld gewaschen haben wollen.
Paul Jandl, NZZ 22.12.2021, 05.30 Uhr
Vielleicht hat man die Österreicher unterschätzt. Ein Volk, von dem man dachte, dass es von früh bis spät Walzer tanzt, kommt aus den Pirouetten gar nicht mehr heraus. Drei Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen hat das Land in den letzten beiden Jahren verschlissen. Der vierte ist noch im Amt, aber niemand kann garantieren, dass nicht auch ihn eine unvorteilhafte Wendung des Schicksals heraushebelt.
Was denkt sich der Österreicher dabei? Ein heimischer Schriftsteller hat für das Empfinden seines Volkes einen Begriff erfunden: die Strudelzeit. Der Teig des Strudels hat die Eigenschaft, sich in alle Richtungen ziehen zu lassen und schliesslich in dieser Form zu verharren. Es ist das Resilienzmodell der österreichischen Küche und das Modell eines Gemüts, das in Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig leben kann, ohne dabei zu zerreissen.
Der Sozialisten-Kaiser
Nie war der Österreicher heutiger als heute, aber in seiner Seele ist er immer ein bisschen Monarchist geblieben. Er glaubt an Obrigkeiten und hat sich diesen Glauben seit den Zeiten der seligen Kaisers Franz Joseph noch nicht vollends verderben lassen. Nach dem Krieg war es Bruno Kreisky, der die Ideen des Sozialismus mit dem Zepter des Monarchen unters Volk brachte. Dafür wurde er geliebt.
Der Salonsozialismus von Kreiskys Gnaden hat das Land reformiert und gleichzeitig dafür gesorgt, dass alles so bleibt, wie es ist. Sein Föderalismus hat die Vizekönige in den Gewerkschaften, in den Bauernbünden und in der Industrie nicht entmachtet. Die berühmte Formel der «Sozialpartnerschaft» hat alle an einem Tisch versammelt. Metaphorisch war das wie ein österreichischer Groschenroman: eine Affäre des Dienstmädels mit dem Gutsbesitzer. Eine Liaison, aus der nicht gleich eine Hochzeit werden muss.
Haider, Strache, Kurz
Mit dem Tod Bruno Kreiskys war der Thron verwaist, weil dann ein paar Macher an die Macht kamen. Der Erste, der den Österreichern wieder Glanz in die Augen zauberte, war ein König, der im Porsche vorfuhr und seine Volksnähe zelebrierte: Jörg Haider. Dass Österreich dem Rechtspopulismus alles verzeiht, wenn an seiner Spitze ein stammtischtauglicher Messias steht, weiss man seit Jörg Haider. Das Modell wurde seither mit wechselnder Überzeugungskraft weiter durchgespielt, aber das Mass der politischen Skandale ist einigermassen gleich geblieben.
Nach Haider und fast zeitgleich mit dem messianischen Slim-Fit-Kanzler Sebastian Kurz kam H. C. Strache. Er hat sich, wie man im berühmten Ibiza-Video sehen kann, von seinen Machtplänen weit forttragen lassen und über die Verschränkung von Korruption, Politik und gekaufter Presse phantasiert. Dass Straches Phantasien in der politischen Realität des Kanzlers Kurz möglicherweise schon verwirklicht waren, ist eine böse Ironie. Als Einbrecher möchte man nicht bei der Planung einer Tat erwischt werden, während ein anderer schon das Silber aus dem Haus trägt.
Österreich: Eine Hand wäscht die andere, aber wenn das an die Öffentlichkeit kommt, dann werden alle ihre Hände wieder nur in Unschuld gewaschen haben wollen. Der Begriff der «Unschuldsvermutung» hat in diesem Land eine triumphale Karriere hingelegt. Die Unschuldsvermutung ist ein juristischer Begriff, der dann angewandt wird, wenn man jemanden aus guten Gründen für schuldig hält, aber Definitives dazu noch nicht sagen kann. Bis tatsächlich etwas bewiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung. Die vielen österreichischen Korruptionsprozesse haben das Wort so inflationär werden lassen, dass der «Unschuldsvermutete» 2012 zum österreichischen Unwort des Jahres gewählt wurde.
Der Redaktor lobt ein bissel
In seinen tiefsten Momenten gelingt es Österreich, sich satirisch zu überhöhen. Das Land spielt sich selbst, aber es spielt sich als Witz. Alles, was es ist, ist noch einmal da. Die Idee von Obrigkeit, mit der das Volk und seine Führung in einen Pakt eintreten, der dazu führt, dass keiner sich über den anderen wundert. Das Volk nimmt an, dass die Politik so ist, wie sie eben ist, und die Politik handelt nach dem gut katholischen Muster der Beichte. Dass die Sünden dem verziehen werden, der wenigstens ein paar davon zugibt. Bei Jörg Haider hat das manchmal so funktioniert und bei H. C. Strache. Sebastian Kurz allerdings musste als Kanzler zurücktreten.
Mit der Säkularisierung Österreichs sind aus dem katholischen Ablasswesen auch profanere, für die Politik lukrative Dinge entstanden. Ihre Währung ist das Bestechungsgeld, das aber natürlich nicht so genannt wird. Dieses Geld wandert zum Beispiel aus der öffentlichen Hand zu den Medien. Auf Staatskosten wird für Inserate bezahlt, in denen sich die Politik selbst lobt. So ist beiden Seiten geholfen. Wenn dem wohlmeinenden Redakteur bei all dem Durcheinander die Feder verrutscht und er die Regierung auch im redaktionellen Teil ein bissel lobt, wer wollte mit ihm ins Gericht gehen?
Das Schwarzgeld muss wohin
Massenmedien, der Name sagt es schon, bekommen am meisten Geld. Es ist ein Zirkel: Die Politik erreicht mit diesen Medien dann ja auch wieder die Massen. Von der Tunneleröffnung bis zur grossen Reform der Trachtenjankerverordnung, das segensreiche Wirken der politischen Führung soll auch den Menschen im Land vermittelt werden. Manchmal wandert auch Geld aus der Wirtschaft in die Politik oder am Finanzministerium vorbei. Mit sehenswerter Akrobatik wurden in den letzten zwanzig Jahren Koffer voller Bargeld durch die Lande verschoben. Es mussten Politikerschwiegermütter für finstere Transaktionen herhalten und Politikerfreunde. Oder Freunde von Freunden von Freunden. Irgendwo musste das Schwarzgeld ja hin.
Manche Perlen aus den Telefondialogen sind der Nachwelt dank der Justiz erhalten. Provisionen wurden «bar aufs Handerl» ausbezahlt, und das Problem von Scheinrechnungen überstieg oft sogar die Phantasie der Scheinrechnungssteller. «Wo woar mei Leistung?», fragte einer, der plötzlich viele Hunderttausend Euro Provisionsgeld auf dem Konto hatte. Geld, das dann unter mutmasslicher Beteiligung ranghoher Politik unter Freunden verteilt wurde.
«Wo woar mei Leistung?» ist der Refrain eines österreichischen Phänomens, das mit Jörg Haider aufgekommen ist. Die «Buberlpartie», das sind die kleinen Lichter, die die grossen Stars des Rechtspopulismus umkreisen. Sie müssen nicht viel können, sind oft sehr jung und vor allem eines: loyal bis in den eigenen politischen Tod. Die Namen aus Jörg Haiders «Buberlpartie» finden sich noch heute, vierzehn Jahre nach dem Tod des FPÖ-Führers, in den Akten von Korruptionsprozessen.
Auch Kanzler Sebastian Kurz, der kürzlich über unsaubere Praktiken der Eigenwerbung in Massenmedien gestolpert ist, hatte seine Garde. In den Chat-Protokollen des kurzschen Netzwerks werden die Hierarchien zwischen erwachsenen Männern auf ergreifend schlichte Art gefeiert: «Ich bin einer deiner Prätorianer der keine Probleme macht sondern löst», schreibt einer in atemlosem Enthusiasmus und vollkommen kommafrei an den Kanzler. In der Affäre Kurz offenbart sich ein System moralischer Schattenwirtschaft, das wegen seiner angeblichen Lichtgestalten funktioniert. Es ist noch nicht lange her, da galt Sebastian Kurz nahezu weltweit als Politiker mit grosser Zukunft.
Damit Österreich seinen Schriftsteller und Denker Robert Musil nicht ganz umsonst hervorgebracht hat, muss man ihn ab und zu zitieren. Vor allem, wenn er sich über die Wahrheit Gedanken macht. Wer es mit der Wahrheit nicht ganz genau nimmt, der ist für Musil «phantastisch, schöpferisch, beweglich, beeinflussbar. Und wo es auf Tiefe und Festigkeit und Gesinnung nicht ankommt wie im zeitgenössischen Geist, ist er eben der ideale Repräsentant.» Von der Slim-Fit-Moral, die eines Tages über sein Land kommen wird, konnte Robert Musil noch nichts ahnen.