Man wählt sein Geschlecht, setzt das eigene Alter herunter oder identifiziert sich als Hexe — die Gesellschaft wird immer infantiler
Ein kindlicher Narzissmus bestimmt inzwischen auch die Welt von Erwachsenen. Medien, Politiker und der Staat tragen zur fortschreitenden Infantilisierung bei.
Birgit Schmid, NZZ, 05.08.2024
Wenn ein Kind nicht erhält, was es will, beginnt es zu trotzen. Es wirft sich zu Boden, fegt den Teller vom Tisch, schreit so lange, bis die Eltern nachgeben. Kleinkinder verstehen noch nicht, dass nicht jeder Wunsch in Erfüllung geht. Denn sie sehen sich als Mittelpunkt der Welt. Sie sind kleine Könige, um die sich alle Menschen zu drehen haben. Mit Frustration können sie nicht umgehen. Sie haben, mit einem psychologischen Begriff gesagt, keine Frustrationstoleranz.
Diese fehlende Toleranz, zu akzeptieren, dass die eigene Macht begrenzt ist und dass andere ganz andere Wünsche haben, die den eigenen Wünschen in die Quere kommen können, gehört eigentlich in die frühkindliche Phase. Doch inzwischen hat ein infantiler Narzissmus weite Teile der Gesellschaft erfasst.
Das zeigt die Euphorie um Nemo, die 24-jährige nonbinäre Person aus Biel, die den diesjährigen Eurovision Song Contest gewonnen hat. Nonbinäre Menschen lehnen jede Geschlechtszugehörigkeit ab und wollen auch so behandelt werden — dies ungeachtet der biologischen Realität. Nemo trug an jenem Abend Röckchen, weisse Strumpfhosen, rosa Plüschhut. Die irische Mitbewerberin namens Bambie Thug, 31 Jahre alt, ebenfalls nonbinär, identifiziert sich als Hexe. Schwarzes Federnkleid, Krallen, Hörner auf dem Kopf.
Nun geht es hier um Show, wo jeder so schrill auftreten kann, wie er will. Nemo hat mit seinem Talent und seiner Performance zu Recht die Massen begeistert. Befremdend ist hingegen, wie sich seither die Öffentlichkeit bereitwillig seinen Wünschen unterwirft.
Journalisten bemühten sich, Nemo durchgängig genderneutral zu bezeichnen, wie es die Transgender-Gemeinschaft vorgibt. Denn jede Nennung als «er», «ihm» oder «ihn» könnte als beleidigend und verletzend empfunden werden. Man hörte die Anstrengung in den Redaktionen heraus, wo nach korrekten Namen wie «Gesangstalent», «Schweizer Hoffnung» oder «musizierende Person» gesucht wurde.
Das Resultat ist eine regressive Sprache, die an die Kommunikation von Kleinkindern erinnert, die nur in der dritten Person von sich reden. Um das Personalpronomen zu vermeiden, tönt das dann so: «Nemo hat öffentlich gemacht, dass Nemo nonbinär ist» (SRF), «Nemo kritisiert, Nemo habe in Malmö nicht nur Schönes erlebt» («20 Minuten»).
Medien lobbyieren für nonbinäre Sprache
Manche Medien gaben sich selber aktivistisch und nahmen die Gelegenheit wahr, ihr Publikum zum Gendern aufzufordern. So erfuhr man von «St. Galler Tagblatt» bis «Watson», «wie es gelingt, nonbinäre Menschen richtig zu bezeichnen». SRF unterstellte seinem Publikum «Sprachlosigkeit» und wollte mit Antworten auf die Frage abhelfen: «They, xier, en: Wie soll ich nonbinäre Menschen ansprechen?»
Auch Lehrer fanden ihr Unterrichtsthema. Ein Dozent der Pädagogischen Hochschule Bern gab in einem Blog-Beitrag mit dem Titel «Mit Schüler*innen über Nemo sprechen» Anweisungen für eine inklusive Sprache im Klassenzimmer.
Damit hatte Nemo schon viel erreicht, aber offensichtlich nicht genug. Im Rausch des Erfolgs sagte er, es sei «inakzeptabel», dass die Schweiz kein drittes Geschlecht anerkenne. Bundesrat Beat Jans war beeindruckt und schickte umgehend eine Einladung zum Gespräch.
Das «verbale Fussaufstampfen» wirkt: So hat der NZZ-Redaktor Alexander Kissler in seinem Buch «Die infantile Gesellschaft» das Verhalten der Klimajugend bezeichnet, die den Erwachsenen «in harten Alternativen» die Leviten liest. Alles oder nichts, jetzt oder nie. So spricht auch ein Prinz auf der Erbse, der gelernt hat, dass man ihm zuhört.
Das kann man ihm nicht vorhalten, sowenig wie man Greta Thunberg dafür beschuldigen konnte, dass sie die Erwachsenen zu Panik aufrief. Es waren die Erwachsenen, die mit Ergriffenheit reagierten, wenn sie vor der Uno oder am Weltwirtschaftsforum in Davos sprach, wohin man sie einlud. Auch die Medien druckten ihre Drohungen lange ungefiltert ab.
So ist es auch im Fall von Nemo: Jeder hat das Recht, für mehr Sichtbarkeit und politische Teilhabe zu kämpfen. Jeder kann so leben, wie er will. Aber er kann nicht erwarten, dass für ihn und nach seiner Massgabe gleich die Gesetze angepasst werden. Oder sich die Mehrheit vorschreiben lässt, wie sie sich zu verhalten oder zu sprechen hat.
«Mach dir die Welt», wird Kindern gesagt
Nun ist ein gewisser Narzissmus gesund. Man muss sich selber gerne haben, um sich seines Lebens zu erfreuen. Oft blieben narzisstische Ziele aber infantil, sagt der Psychoanalytiker und Narzissmus-Forscher Otto Kernberg. Das Gefühl der eigenen Grandiosität begleite viele Menschen auch als Erwachsene. Die Welt müsse sich um sie drehen, sie wollten permanent geliebt und bewundert, gespiegelt und bestätigt werden.
Die Gesellschaft fördert solche narzisstische Tendenzen. In der gegenwärtigen Kultur wird schon kleinen Kindern gesagt, wie grossartig sie seien. Ein neues Kinderbuch trägt den bezeichnenden Titel «Mach dir die Welt». Die Porträts von «30 queeren Persönlichkeiten» sollen Kinder ab acht Jahren ermutigen, «die Welt nach ihren Träumen zu gestalten». Alles ist machbar, wird dem Kind vermittelt: Du bestimmst, wer du bist.
Nicht einmal die Biologie, ob man in einem männlichen oder weiblichen Körper geboren wird, soll nun den Blick auf sich selbst einschränken. Die genderneutrale Erziehung hilft dabei, später übernimmt der Staat. Das Kind darf durch keine sozialen Normen an der freien Entfaltung gehindert werden. Selbstbestimmung von der Wiege an.
Ein Kind kann sogar intelligenter sein, als es ist. So sehen es jedenfalls viele Eltern, unter denen dann die Lehrerinnen und Lehrer leiden. Diese bekommen es wegen angeblich unfairer Notenvergabe mit aufgebrachten Vätern und Müttern zu tun.
Kürzlich wurde der Fall eines Schülers aus Zug bekannt, der mit zwölf wegen mangelnder Leistung vom Gymnasium geflogen ist. Die Eltern, die das nicht akzeptieren wollten, klagten bis vor Bundesgericht. Wie lernt ein Kind, dem jedes Hindernis aus dem Weg geräumt wird, mit späteren Frustrationen umzugehen?
Aber diese Sorge ist unnötig. Universitäten und andere Bildungsinstitutionen haben sich zu Safe Spaces entwickelt, in denen junge Menschen vor unliebsamen Meinungen geschützt werden müssen. Gastdozenten, die etwa die Trans-Debatte kritisieren, werden wieder ausgeladen oder müssen mit Protesten auf dem Campus rechnen. Manche Bücher werden den Studenten nur noch mit Triggerwarnungen zugemutet. Sie sind jetzt zwar erwachsen, werden aber weiterhin als hochempfindliche, schnell empörte und leicht verletzbare Wesen behandelt.
Das ideologisierte Spiel
Es gibt viele Gründe, weshalb man heute nicht erwachsen wird. Die sozialen Netzwerke tragen viel dazu bei. Man stellt sich im besten Licht dar, ohne zu merken, wie man sich dabei entblösst. Auch hier ein Spiel ohne Grenzen, bei dem man Unbeteiligten sein Leben aufdrängt.
Es geht uns gut, die Freizeit wird wichtiger, die Unterhaltungsindustrie sorgt dafür, dass das innere Kind auf seine Kosten kommt. Nur wer Zeit und Geld hat, kann sich so intensiv mit sich selber beschäftigen. Die Besinnung auf sich selbst und auf die eigenen Bedürfnisse fördert dabei regressive Züge, gegen die die Vernunft nicht ankommt.
Im Zeitalter der Identität scheinen kindliche Phantasien besonders gut zu gedeihen. Das ganze Selbstverständnis richtet sich nun danach aus, woher ich komme oder was für eine sexuelle Identität ich habe. Es ist inzwischen ein bunter Strauss von Identitäten, für deren rechtliche Anerkennung diverse Gruppen kämpfen. Letzten Herbst versammelten sich in Berlin mehrere hundert Menschen, die sich als Hund identifizieren. Dabei bellten und jaulten sie um die Wette.
Genauso phantastisch, also kindisch ist es, wenn Gianna Nannini in einem Interview zu ihrem siebzigsten Geburtstag sagt: «Ich wurde 1983 geboren, bin jetzt also 41.» Andere wollen ihr wahres Alter sogar per Gerichtsentscheid in ihrem Pass zurücksetzen lassen.
Eine Gesellschaft bleibt so im Kindlichen verhaftet. Dabei gilt auch hier: Jedem steht es frei, sich die Identität zurechtzuzimmern, die er will. Andere müssen ihn aber nicht als das ansehen, was er sein will. Das ist auch der Unterschied zwischen Leben und Kunst. Der Künstler Jonathan Meese hat gesagt: «Ich kann heute Pippi Langstrumpf sein, morgen rechtsradikal, übermorgen Katholik, dann Muslim und ein Glas Wasser. Ich kann in der Kunst alles sein, Frau, Mann, jede Hautfarbe annehmen, jedes Geschlecht, jedes Alter.» Sobald die Behauptung aber das Spielerische verliert, wird sie zur Ideologie.
Selbstermächtigung ist der neue Gott
Doch weil Gefühle eine immer grössere Macht haben, wird auf einzelne Interessen viel Rücksicht genommen, werden sie von Mehrheiten willfährig offizialisiert. Gegen das subjektive Empfinden kommt niemand an. Selbstermächtigung ist der neue Gott.
Deshalb die Anpassungsleistung der Medien beim Gendern. Deshalb die Offenheit des Bundesrats bei der Diskussion um ein drittes Geschlecht. In Deutschland trat am 1. August das Selbstbestimmungsgesetz in einer ersten Stufe in Kraft, das es jedem erlaubt, sein Geschlecht frei zu wählen. In Zukunft droht eine Busse, wenn man das biologische Geschlecht oder den früheren Namen einer Person offenbart.
Sobald die Eltern das Kind nicht mehr vor Frustrationen bewahren, übernehmen gutmeinende Journalisten, Lehrer und Politiker die Betreuung. Sie sorgen dafür, dass Erwachsene Kinder bleiben.